Unser Sohn Günter

 

Günter wurde am 09.09.1951 Zuhause geboren. Geburten im Wohnbereich waren damals noch normal. Es war eine schwere Geburt und der Aufwand war eine einzige Katastrophe. Zuerst musste ich 10 Liter Wasser zum kochen bringen. Dr. Fortmann musste die Instrumente ja sterilisieren. Natürlich hatten wir keinen Elektroherd, den hatten auch nur die besseren Leute! Wir hatten einen großen Tafelherd. Diesen Herd habe ich mit Eierkohlen voll gepackt, so dass die Herdplatte glühte. Das Wasser kochte auch alsbald und der Arzt konnte sein Besteck abkochen. Danach musste ich noch einmal 10 Liter Wasser heiß machen. Die Hebamme brauchte natürlich ebenfalls warmes Wasser. Anschließend durfte ich die glühenden Kohlen und sogar die Asche aus dem Herd nehmen. Damit es schneller ging habe ich die Glut und auch die heiße Asche einfach aus dem Fenster geworfen.Für die Narkose brauchte der Arzt ja Äther, Feuer und Äther das gibt bestimmt einen lauten Knall.

Dr. Fortmann hatte zu der Zeit gerade die Praxis von Dr. Meyer Brinkstraße, gegenüber von Cafe Eckhoff übernommen. Dr. Meyer ist als Lohne das Schützenfest feierte an einem Herzinfarkt gestorben. Er war ein aktives Mitglied im Schützenverein und der Dr. war einem guten Tropfen beileibe nicht abgeneigt. Dr. Fortmann übernahm dessen Praxis mit allen Drum und Dran.

 

 

Otto & Günter
Otto & Günter

 

 

Für Anni hatte das sehr fatale und schmerzhafte Folgen. Die Geburt unseres Erstgeborenen verlief alles andere als normal. Es war eine schwere Zangengeburt, in dessen Verlauf Anni einen Dammbruch erlitt. Sofort nach der Geburt musste der Riss genäht werden. Die Hebamme legte Anni ein Tuch auf die Nase und nahm aus dem Arztkoffer ein Fläschchen mit der Aufschrift Äther und träufelte Tropfen für Tropfen auf das Tuch, während Anni zählte und zählte, ohne schläfrig zu werden. Schließlich sagte sie zum Arzt: "Ich steh vor ein Rätsel, Frau Rohe schläft nicht ein!" Der Arzt schaute von seiner Arbeit auf, er machte die Nähnadel fertig und rief ganz erschrocken: "Nicht die Tropfen nehmen!" Die Hebamme rief zurück: "Aber hier auf dieser Flasche steht klar und deutlich Äther!" Darauf der Arzt: "Aber da ist kein Äther drin!" Er nimmt der Hebamme die Flasche aus der Hand, greift mit der anderen Hand in seinen Koffer, entnimmt daraus ein anderes Fläschchen und sagt: "Dies ist Äther!" Die Hebamme tropft einige Tropfen auf das Tuch und auh - weh, die Flasche ist leer. Frau Forst, so heißt die Hebamme, fragt: "Und was nun?" Kleinlaut sagt der Arzt: "Ich habe nicht mehr Äther dabei, es muss so gehen!" Stich für Stich musste Anni das Nähen aushalten. Sie war nur ganz leicht von den wenigen Tropfen benommen. Als Anni sich von der schwierigen Geburt und von den Nähstichen etwas erholt hatte, wollte sie verständlicherweise das Kind in ihren Armen halten. Das Kind war zwar gewaschen, aber nur in einige warme Decken gewickelt worden. Die Hebamme und der Arzt schauten sich an, schauten Annis Mutter und mich an. Ich wusste worum es ging. Sofort nach der Geburt, als die Hebamme den kleinen Neugeborenen badete, hat sie mir ein Zeichen gegeben und sie zeigte mir das Kind, indem sie es hochhielt und dabei auf Günters linken Fuß deutete. Das linke Füßchen war vermutlich im Fußgelenk von der Nabelschnur seitlich nach außen etwas hochgezogen worden. Günter hätte so niemals gehen können. Die Hebamme schälte das Kind aus den warmen Tüchern und als sie es Anni in den Armen legte, sagte sie: "Das Füßchen ist nicht ganz in Ordnung, aber mach dir keine Sorgen. In Oldenburg ist ein guter Chirurg, der kriegt das mit einer Operation wieder hin!" Der Arzt fügte hinzu: "Die Operation muss allerdings in allernächster Zeit gemacht werden!" Nur gut , dass wir nicht wussten, was Günter mitmachen musste! Anni war begreiflicherweise bis über alle Maßen enttäuscht und schockiert! Um Anni zu trösten sagte Frau Forst zu ihr: "Anni, du musst noch dankbar sein, dass dein Junge nur eine leichte Fußfehlstellung hat. Vor einigen Tagen ist ein Mädchen mit 2 völlig verschiedenen Gesichthälften in Lohne zur Welt gekommen. Die linke Gesichthälfte ist normal, aber die rechte ist mit dem Auge fast bis zum Kinn nach unten gewachsen!" Da waren Anni und ich doch wirklich heilfroh, dass unser Kind ansonsten gesund und sogar ein hübsches Gesicht hatte. Diese vom Leben so benachteiligte Frau ist im Jahre 1994 gestorben.

 

Günter-Oma-Stefan-Olaf
Günter-Oma-Stefan-Olaf

 

 

Günter war erst neun Tage alt, da wurde die 1. Operration gemacht. Es folgten noch weitere Operationen. Sieben oder acht Eingriffe sind es bestimmt gewesen.

Aber richtig einwandfrei gehen kann er jetzt immer noch nicht!

 

Nach der 1. Operation erkrankte Günter an einer schweren Magen- und Darmentzündung. Die Ärzte haben nicht wirklich damit gerechnet, dass er diese Krankheit überstehen würde. Günter musste mehrere Monate im Krankenhaus bleiben. Am Telefon hat man uns immer gesagt: "Machen Sie sich keine Sorgen. Ihrem Kinde geht es so weit ganz gut. Es muss sich nur von den Folgen der Operation erholen. Er leidet im Moment zwar an einer Magen- und Darminfektion, aber das kriegen wir wohl hin. Wenn Günter soweit ist, dann können sie ihn nach Hause holen. Aber etwas später muss er noch einmal operiert werden!" Als wir ihn holten, waren wir doch etwas irritiert. Günter war wohl größer geworden, aber sein Körpergewicht entsprach nicht unseren Vorstellungen. In unserer Naivität dachten wir, dass das die Operationsfolgen seien. Annis Mutter sagte als sie Günter sah: "Das Kind ist krank gewesen. Diese Blässe, und er müsste doch schon schwerer sein. Von der Operation kann das nicht kommen!"

 

Erst neun oder zehn Monate später, als wir Günter nach Oldenburg brachten, damit er wieder operiert werden konnte und der Arzt und die Schwestern das gut und gesund aussehende Kind sahen, hat man uns die Wahrheit über die lebensbedrohende Krankheit, die Günter durchgemacht hat offenbart.

 

Um öfter und schneller nach Oldenburg fahren zu können, haben wir uns mehrmals ein Motorrad geliehen.

 

Durch eine Glasscheibe konnten wir Günter sehen, aber das Kinderzimmer durften wir nicht betreten. Günter blieb dann jedes Mal für einen längeren Zeitraum in Oldenburg. Und während dieser Zeit wurde er in der Regel zwei mal operiert. Sehnen mussten verpflanzt und verlängert werden. Erst wenn die Ärzte sich sicher waren, dass die neu gezogenen und genähten Sehnen auch wirklich belastet werden konnten, durfte Günter für vier oder fünf Monate nach Hause.

 

Weil ich nicht so oft meiner Arbeit fern bleiben konnte, hat Anni den Jungen von Oldenburg abgeholt! Zuhause war es mit Günter nicht immer ganz einfach! Als Anni sich an einem Sonntagvormittag eine weiße Kittelschürze anzog, da hat das Kind geschrieen und getobt. Es war schon eher eine schwere Panikattacke. Erst als Anni den Kittel ablegte und wegbrachte beruhigte sich Günter wieder. Später erfuhren wir den Grund warum er so reagierte. Er wurde, wenn eine Operation bevorstand von einer oder zwei Schwestern, bekleidet mit weißen Kittelschürzen in den OP gebracht. Das war für Günter das sichere Zeichen, dass ihm Schmerzen zugefügt werden sollten. Er wusste , dass er später mit Schmerzen im Fuß wieder in sein Bettchen liegen würde. Ich möchte noch eine ähnliche Situation schildern. Als Anni einmal einen Wasserkessel auf den Herd stellte, weil sie für irgendeinen Zweck kochendes Wasser brauchte. Als nun das Wasser im Kessel anfing zu kochen, konnte man ein gleichmäßiges Summen vernehmen. Für uns ein ganz normaler Vorgang. Nicht jedoch für Günter. Wieder derselbe heftige Panikanfall. Auch hier entspannte sich Günter erst, als Anni den Kessel vom Herd nahm, so dass das Summen nicht mehr zu hören war. Dieses Summen kannte Günter leider auch nur zu gut! Wenn Günter operiert werden sollte, dann wurde er mit Äther betäubt und beim hinübergleiten in die Vollnarkose vernahm das Kind dieses Summen! Aber auch wenn Anni den Jungen wieder zum Krankenhaus bringen musste, war das beileibe keine Spazierfahrt! Welche Mutter trennt sich schon gerne von ihr Kind? Aber schlimm wurde es, wenn sich die Krankenhaustür öffnete! Wir Erwachsene mögen die Krankenhausluft nicht gerne riechen. Aber für Günter waren das furchtbare Qualen. Er wusste, dass dies der Ort ist, wo er leiden musste und die Trennung von seinem Elternhaus, von Mama und Papa war. Er hat geweint, sich an Anni geklammert und immer wieder gestammelt: "Ich will lieb sein, ich will immer ganz lieb sein, aber lass mich bitte nicht hier!" Das Weggeben und das Zulassen, dass ihm Schmerzen zugefügt wurden, dass empfand das kleine Kind als Strafe! Günters und Annis Tränen flossen vergebens. Die Schwestern nahmen das Kind Anni aus den Armen und gingen schnell damit weg. Als Günter nach einigen Monaten aus dem Krankenhaus entlassen wurde, haben wir ihn nicht wieder in Oldenburg von dem Arzt operieren lassen. Er konnte zwar mühsam gehen, nein humpeln trifft schon eher zu. Und man sah Günter an, dass er sich nur unter Schmerzen fortbewegen konnte. Nach sechs oder sieben Wochen konnten wir sehen, dass Günters Fußstellung sich erheblich verschlechtert hatte.

 

Mai 1968
Mai 1968

Gerade zu dieser Zeit eröffnete in Vechta ein Orthopäde seine Praxis. Wir haben Günters Fuß von Dr. Hönig, so hieß der Arzt, untersuchen lassen. Der hat sofort einen Sehnenriss diagnostiziert und zu einer sofortigen Operation geraten. Er sagte: "Das Kind hat jedes Mal, wenn er den Fuß aufsetzt starke Schmerzen!" Günter ist dann auch alsbald operiert worden. Nach der Operation mochte uns der Arzt keine Erfolgszusage geben. Der Dr. sagte: "Die Sehne muss schon nach der letzten Operation sofort wieder gerissen sein! Eine gesunde Sehne ist in etwa Perlmuttfarbig, aber die Fußsehne bei Günter ist Strohgelb und auch noch faserig. Erschwerend kam hinzu, dass die Sehne sich während dieser langen Zeit verkürzt hat. Nur mit großer Mühe habe ich es Zuwege gebracht, die beiden Sehnenenden mit einigen Stichen zu fixieren!" Von Dr. Hönig hat Günter orthopädische Schuhe und eine Schiene verordnet bekommen. Die haben seinen Fuß in korrekter Stellung festgehalten.

 

Die nächste und letzte Operation brachte uns die Gewissheit, dass die Sehne sich doch noch regeneriert hat und nicht wieder gerissen ist.

 

Weil Günter im Sommer ja nicht ins Freibad konnte, er durfte von uns aus ruhig hingehen, aber er wollte nicht. Er sagte: " Die schubsen mich. Und wenn ich mit dem operierten Bein nicht so gut das Gleichgewicht halten kann und ich der Länge nach hinfalle, lachen die mich obendrein noch aus!" Kurzerhand haben wir für ihn kein Schwimmbecken, aber ein großes Planschbecken mit Stufen zum Einsteigen und Aussteigen und mit einem Abfluss gebaut. Die Wände hat Anni mit Zementfarbe farbig mit Fischen, Enten und mit einem Storch bemalt. Damit das Wasser nicht so schnell schmutzig wurde, haben wir auf dem mit Solnhofer Platten gemauerten Beckenrand ein kleines Becken eingelassen. Darin konnten die Kinder, bevor sie ins Wasser gingen ihre mit Sand und Gras verunreinigten Füße abspülen.

 

Fast das ganze 1. Schuljahr hat Anni Günter Zuhause unterrichtet. Das hat auch ganz gut geklappt. Nach seiner Schulentlassung hat Günter eine Lehre als Orthopädieschuhmacher begonnen. Aber leider konnte er diesen Beruf nicht beibehalten. Die Arbeit mochte er allerdings auch nicht so gerne tun. Ihm fehlte die Bewegung.

 

Weil eigentlich alle Schuhmacher etwas vorübergebeugt auf einen Hocker sitzend arbeiten, hat diese Sitzhaltung seiner Wirbelsäule gar nicht gut getan.

1969 hat Günter um Geld zu verdienen in einer Hähnchenschlachterei gearbeitet und lernte somit die harte Fließbandarbeit kennen, die immer aus den selben Handgriffen und Bewegungsabläufen besteht.

Olaf-Günter-Mama-Stefan
Olaf-Günter-Mama-Stefan

 

 

Die Ausbildung zum Rettungsassistenten lag ihm schon eher. Jeder Einsatz verlief und war immer einmalig.. Die Prüfung hat er als Einziger mit  "Sehr Gut" bestanden.  Kurze Zeit später bot ihm das Arbeitsamt die Gelegenheit Führerscheine zum Lenken von Lastkraftwagen und Omnibussen zu machen. Günter hat LKW Fahrzeuge und Omnibusse gefahren. Busse fuhr er im Nahverkehr und in der Schülerbeförderung. Nach einiger Zeit lenkte er auch Busse im Inland und Ausland für Urlauber. Aber weil diese Fahrersitze damals noch nicht so gut gefedert waren, musste er das Fahren wegen Rückenprobleme beenden.

 

Günter konnte als Rettungsassistent beim Roten Kreuz eine Stelle in Diepholz bekommen und sie mussten deswegen nach Diepholz umziehen.

 

Tina-Tobias-Sylvia-Günter
Tina-Tobias-Sylvia-Günter

 

 

Günter ist später nach Süddeutschland in den Schwarzwald gezogen. Dort lernte Günter seine jetzige Frau Sylvia kennen. Auch sie war geschieden und brachte zwei nette Kinder mit in die Ehe. Ein Mädchen Christina und einen Jungen Tobias.

 Die beiden Kinder, Christina und Tobias verdienen ganz gut und haben ihre eigenen Wohnungen.

 

 

Mehrere Jahre hat Günter dort als Rettungsassistent gearbeitet. Aber auch diese Arbeit musste er wegen Rückenprobleme aufgeben. Günter hat daraufhin nochmals eine Ausbildung begonnen und mit Erfolg abgeschlossen. Er ist jetzt ein erfolgreicher Versicherungskaufmann.

 

Seine Frau Sylvia ist sehr sympathisch, sehr tüchtig und hat gute kreative, künstlerische Talente. Sie ist bei der Stadtverwaltung Waldshut als Politesse angestellt! Günter und Sylvia arbeiten in der Versicherungsbranche jetzt zusammen. Sylvia erledigt im Büro für Günter die immer mehr werdenden Schreibarbeiten, so dass Günter mehr Zeit im Außendienst für Kundenbetreuung, Schadensmeldungen und ganz wichtig Versicherungsverträge schreiben gewinnt! Natürlich erhält Sylvia den Branchenüblichen Lohn und sie ist auch sozialversichert. Inzwischen hat Sylvia aber ebenfalls alle Prüfungen bestanden und darf sich Versicherungskauffrau nennen! Aber sicher hat Sylvia ihre Arbeit als Politesse nicht aufgegeben. Diesen Job macht sie schon viele Jahre und sie ist im öffentlichen Dienst beschäftigt. Diesen Pluspunkt sollte man nicht ohne triftige Gründe über Bord werfen. Entweder an den Vormittagen arbeitet sie als Politesse und an den Nachmittagen Zuhause im Büro, oder aber das alles in umgekehrter Reihenfolge!

Günter mit seiner Kreidler
Günter mit seiner Kreidler

Aber da war doch noch etwas? Ja stimmt, beinahe hätte ich es vergessen! Wie heißt es doch so trefflich in einem Schlagertext? 'Das bisschen Haushalt sagt mein Mann, das kann doch nicht so schwer sein, sagt mein Mann!!

Diesen Nachtrag möchte ich betiteln mit einem einzigen Wort - Freiheit -. Ich habe einiges über Günters Leben geschrieben. Krankenhaus, Operationen, Behinderung, Arbeitsstellen, das sind nur einige Stationen seines bisherigen Lebens. Aber nun möchte ich noch einmal mit meinen Gedanken da wieder anknüpfen, als Günter, wie man es allgemein so sagt, ein Dreikäseknirps war! In dieser Entwicklungsphase bedeutete die Freiheit wie er sie verstand einfach laufen, wandern, ganz nach dem Motto: Soweit die Füße tragen! Unbeirrt machte er sich auf den Weg und das trotz seiner Behinderung und Schmerzen!

Das er seinen Eltern mit diesen nicht ganz ungefährlichen Eskapaden einen gehörigen Schrecken einjagte, das konnte Günter natürlich nicht verstehen! Da konnte es schon passieren, dass Nachbarn oder Bekannte uns einen Wink gaben und sagten: „Euren Günter haben wir gesehen. Er geht nach Lohne zu!“ Oder sie sagten uns, dass er bei Nordlohne - Borgerding an der Straße steht und die vorbeifahrenden Autos bestaunt. Übrigens, ein Autofreak ist dieser Dreikäsehoch bis ins gesetzte Mannesalter mit seinen überwiegend grauen Haaren geblieben!

 

Wenn ich nach Arbeitsschluss nach Hause kam und Anni mir erzählte, dass Günter mal wieder auf Entdeckungstour war, obwohl sie ihn kurz vorher noch spielend unter dem Küchenfenster gesehen hatte, da machten wir uns doch Sorgen und überlegten, was wir dagegen machen konnten! Als Ausweg blieb uns keine andere Möglichkeit als ihn anzubinden. Um das Gerede der Nachbarn - ihr könnte den Jungen doch nicht an die Leine legen - darauf konnten wir keine Rücksicht nehmen. Er konnte in einen Wassergraben oder in einen Teich fallen und Ertrinken. Ganz zu schweigen von den mit morschen Brettern zugedeckten Jauchegruben.

Olaf-Günter-Stefan
Olaf-Günter-Stefan

In einigen Geschäften konnte man tatsächlich für Kinder, die gerade anfingen das Laufen zu lernen eine Halterung oder besser gesagt ein Geschirr aus Leder kaufen. Den Blindenführhunden wird ein ähnliches Geschirr angelegt. Wir besorgten uns dasselbe und haben Günter mit einer langen Leine an einen Baum, der direkt hinter unserem Garten stand angebunden! Die Leine haben wir lang genug gelassen. Er konnte damit bequem bis zum Küchenfenster gehen. Durch das geöffnete Fenster konnte Anni ihn beim Spielen zuschauen und auch mit ihm sprechen.

 

Günter hat das Anleinen nicht wirklich als eine massive Einengung empfunden. In Oldenburg im Krankenhaus wurde er, damit er nicht aus sein Kinderbettchen klettern konnte, rechts und links an den Gitterstäben angebunden. Günter konnte sich wohl hinlegen und wieder aufstehen.

 

Er konnte, weil sein Bett an einem Flurfenster stand das Kommen und Gehen verfolgen. Günter hatte somit Abwechslung und Zeitvertreib. Das Pflegepersonal wiederum hatte im Vorbeigehen die Möglichkeit das Kinderzimmer zu überwachen. Dabei den Kindern ein Lächeln und im Weitergehen einen Handgruß zu schenken!

 

Eine Dauerlösung war das Anbinden hier bei uns im Garten nun aber wirklich nicht. Wenn es eben ging, hat Anni Günter in einen stabilen Sitz aus Metall, der an ihrem Rad befestigt war gesetzt und ist mit ihm herumgefahren. Alles genau nach der STVO gesichert brauchte Anni keine Angst haben bei einer Polizeikontrolle eine Verwarngebühr zahlen zu müssen.

 Immer willkommen waren Anni und Günter bei Frau Baumann auf Gut Brettberg. Da hat Anni ihr Pflichtjahr ableisten müssen!

Wie gesagt, das Anbinden war wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Um mit den Nachbarskindern spielen und herumlaufen zu können brauchte Günter ein Fahrrad und er musste damit umgehen, also fahren können! Und das besser Gestern als Heute. Zuerst habe ich mein Glück und Ausdauer als Fahrlehrer versucht. Das war zum Lachen, aber mehr noch zum Verzweifeln. Günter kriegte den Dreh, das Lenken, die Pedale pedden und das Gleichgewicht halten einfach nicht hin. So lange ich das Rad hinten am Sattel festhielt, also als ein eingebauter Stabilisator funktionierte, ging es einigermaßen. Aber oh Schreck, wenn er merkte, dass der Papa nur so tat als ob, dann taumelte er Hin und Her wie ein Betrunkener und er landete im Sand. Oder als Anni ihr Talent als Fahrschullehrerin versuchte und Günter den abfallenden Weg, der vom Wald zu unserem Haus führte allein fahren lassen musste, weil sie mit der rasant ansteigenden Endbeschleunigung nicht Schritt halten konnte. Unser Günter krachte nun führerlos geworden gegen die Hauswand und versuchte sich erfolglos als Steilwandfahrer. Zum Glück ist ihm nichts passiert. Sein Schutzengel hat schlimmeres als nur einige Blessuren verhindert!

Papa-Günter-Mama
Papa-Günter-Mama

 Aber so ging es nicht weiter. Wir brauchten Hilfe. Die Lohmann Jungs schauten sich dieses Treiben schon eine ganze Weile an und sparten auch nicht mit Ratschlägen, die wir als völlig überflüssig empfanden! Meine Antwort darauf: „Lacht nicht so blöd. Macht ihr es doch besser und ihr bekommt fünf DM, wenn ihr Günter bis heute Abend das Fahren beigebracht habt!“

Das Angelusläuten war gerade vorbei (18 Uhr), da stürmten die Jungs laut rufend, eher schon grölend in unsere Küche und riefen: „Günter kann Radfahren. Kommt mit nach draußen. Ihr könnt es euch anschauen! Jetzt kriegen wir doch die fünf DM!“ Als wir nicht sofort reagierten, ging das Gezeter los: „Versprochen ist Versprochen und wird nicht gebrochen!“ Um die Jungs zu beruhigen sagte Anni: „Nun seid man ruhig. Wenn Günter Radfahren kann, dann bekommt ihr ganz bestimmt die fünf Mark. Die habt ihr euch auch redlich verdient!“ Draußen stand Günter freudestrahlend, aber mit hochrotem, verschwitzten Gesicht neben seinem Fahrrad. Als er uns sah setzte er sich schnell auf sein Rad und fuhr einige Runden. Er hatte den Bogen raus. Er fuhr sicher und er konnte sogar auf dem ausgefahrenen Pferdeweg wenden! Günter bekam ein dickes Lob und er durfte mit dem Rad nach Borgerding, das war ein kleiner Tante Emmaladen fahren und sich eine große Tüte Bonbons kaufen. Ein Eis wäre bestimmt erfrischender gewesen, aber Tiefkühltruhen gab es vielleicht in Amerika, aber hier noch nicht. Die Lohmannskinder bekamen, so wie wir es abgemacht hatten ihren reellen Lohn!

Nun konnte Günter mit seinem Fahrrad die Kinder aus der näheren Umgebung, aber auch die etwas weiter weg wohnenden Kinder besuchen und mit ihnen herumziehen!

 

Anni und ich, wir wussten, dass Günter sein Rad dazu benutzen würde, um sich die in seinem Unterbewusstsein fehlende - Freiheit - zu suchen. Er konnte da noch nicht wissen, dass es eine grenzenlose - Freiheit - nicht wirklich gibt. Gottes Gebote sind die Grenzen, die wir zu unserem leiblichen als auch zu unserem seelischen Wohlbefinden brauchen! - Zufrieden sein mit sich selbst und mit unseren Nächsten. Hass, Neid und Fanatismus bedeuten letztendlich Chaos und Untergang!

Wir konnten nur auf die Hilfe von Günters Schutzengel hoffen und seine Hilfe hat Günter reichlich in Anspruch genommen.

 

Als an einem Abend Günter nicht nach Hause kam, da machten wir uns doch Sorgen. Ich habe mein Fahrrad genommen und bin zu seinen Freunden gefahren, aber keiner konnte sagen, wo Günter sein könnte. „Heute Nachmittag war er bei uns, aber als wir ins Haus mussten, da ist Günter weggefahren“ wurde mir gesagt! Ich habe Anni Bescheid gesagt und wir sind dann nach Lohne gefahren, um ihn zu suchen! Bis zur Stadtmitte brauchten wir gar nicht zu fahren. Wir fanden ihn am Mühlenteich, den er mit seinem Rad immer wieder umrundete. Wenn aber ein Spaziergänger die auf dem Teich schwimmenden Enten und Schwäne fütterte, dann hielt er für einige Minuten inne und schaute denen sich um jedes Brotbröckchen streitenden Wasservögeln zu. Als wir die Straße, von der wir Günter beobachteten verließen und zum Mühlenteich gingen und er uns sah, da erzählte er uns fröhlich und gut gelaunt, was er alles gesehen hat! Als wir ihm sagten, dass es bereits 20:30 sei und andere Kinder schon längst im Bett wären, da meinte Günter: „Ich bin aber noch nicht müde!“ Als Anni ihn gewaschen und er sein Abendbrot gegessen hatte, da überkam ihn doch die Müdigkeit und die Augen fielen ihm zu!

Ein anderes Mal hat Anni ihn in der Stadtmitte mit voll geschissener Hose auf den Stufen eines Geschäfts sitzend gefunden. In diesem Fall haben Bekannte ein Kind zu Anni geschickt, um ihr auszurichten, wo sie Günter gesehen haben! Auch dieses Mal plapperte und erzählte er seiner Mutter, wie viele Leute und Autos an ihm vorbei gegangen und gefahren sind!

 

Günter musste allen Anschein nach die Zeit, die er im Krankenhaus liegen musste quasi im Nachhinein mit Leben beleben, vor allen Dingen aber auf seine Art und nach seinem Verständnis die - Freiheit - als das Maximale zu fühlen und zu begreifen! Bei Sylvia und Günter können wir beide - Anni und Otto - immer schöne und erholsame Ferien verbringen!

 

Aber das war einmal. Seit dem meine Parkinson Erkrankung schlimmer geworden ist und ich zudem jetzt noch an einer Knochenmarkentzündung leide, kann ich leider nicht für mehrere Tage verreisen! Anni könnte zwar fahren, aber sie mag mich nicht allein lassen!

 

Günter 2023
Günter 2023

Hier wohnt Günter mit seiner Frau Sylvia

Inhalte von Google Maps werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell), um den Cookie-Richtlinien von Google Maps zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Google Maps Datenschutzerklärung.